„Die meiste Zeit meines Lebens nahm ich meinen Körper als schlecht, befleckt und gefährlich wahr“, schreibt Audrey Assad* auf ihrem Blog. Audreys frühe Kindheit könnte man als behütet bezeichnen, vielleicht etwas zu behütet. Auf jeden Fall gab es Dinge, die sie heute kritisch betrachtet. Ihre Familienkultur, der Lebensstil ihrer Eltern, die Vorstellungen und Grundsätze, die sie vermittelt bekam und ihr Leben von Grund auf prägten, enthielten Elemente, die es einem heranwachsenden Mädchen nicht allzu leicht machen sollten. Frauen hatten zu schweigen und sich zurückzuhalten, Sex durfte nicht zum Thema gemacht werden. Das war auch der Grund, warum sie keine Notwendigkeit darin sah, ehrlich mit ihrer Sucht umzugehen. Sex war sowieso tabu. „Meine Eltern klärten mich nicht auf.“
Geliebt und gebrochen
Audrey erblickte am 1. Juli 1983 als Tochter einer US-Amerikanerin und eines syrischen Flüchtlings das Licht der Welt. Ronald Reagan war zurzeit Bundespräsident und während ihrer ersten Atemzüge dröhnte aus den Lautsprechern der Radios mit höchster Wahrscheinlichkeit der passende Song „Every breath you take“ oder „What a feeling“.
Die folgenden Jahre werden durch die Zugehörigkeit ihrer Familie zu einer fundamentalistischen evangelikalen Gemeinde geprägt. Und durch ein Klavier, das sie fasziniert, seit sie zwei Jahre alt ist.
Ihr kindliches Selbst beschreibt sie als verängstigt und sie erzählt von unzähligen Albträumen über Insekten und Spinnen oder durchwachten Nächten. Ein Kind mit einem regen Innenleben, das im Laufe der Jahre allerdings auch immer besser lernt, dieses Innenleben abzuschirmen und eine Maske zu tragen. Sich selbst zu bewahrheiten in einer Welt, die oft nicht bereit ist, zu sehen, was unter der Oberfläche liegt. Gleichzeitig halten Ängste und Zwänge Einzug in ihr Leben.
An einem ganz gewöhnlichen Tag, als Audrey fünfzehn Jahre alt ist und im Keller des Familienhauses fernsehen möchte, zappt sie durch die Programme. An einem bleibt sie schließlich hängen. Sie hat ein komisches Gefühl im Magen, kann das, was am Bildschirm abgeht, nicht einordnen, aber sie sieht hin. Und hört so schnell auch nicht mehr auf. Seit diesem Moment geht sie täglich in den Keller und nimmt sich vor, niemandem davon zu erzählen. Vorerst.
Meine Eltern klärten mich nicht auf
„So sah mein erster Kontakt mit Sex aus. Ich hatte keine Ahnung davon. Meine Eltern klärten mich nicht auf und sie nahmen mich aus der Aufklärungsklasse in der Schule raus. Ich konnte überhaupt nicht einordnen, was ich sah.“
Der „Ausrutscher“ an diesem normalen Nachmittag wird bald zur Gewohnheit und die Gewohnheit zum Zwang. Während Pornografie in manchen Medien sogar empfohlen wird, um das eigene Sexleben „aufzupeppen“ und Jugendlichen nahegelegt wird, um sexuelle Erfahrungen zu machen, fängt Audrey an, mit sich und ihrem neuen Hobby zu hadern.
„Nichts ist ganz schwarz-weiß, aber während Sex etwas total Natürliches ist, kann ich das von der Pornografie nicht behaupten. Es ist nicht natürlich, Menschen dabei zuzusehen, und ich glaube, dass es langfristig gesehen einen sehr negativen Einfluss auf unsere Psyche ausübt. Pornografie ist voyeuristisch und meistens sehr frauenfeindlich. Wenn man tagein und tagaus diese Inhalte aufnimmt, formen sie einen. So formten sie meine Vorstellungen, wie Sex sein soll, wie Frauen behandelt werden sollten, wie sie auszusehen haben.
In einer Weise bestätigte das auch schon einige meiner vorhandenen Ideen von Weiblichkeit. Zum Beispiel, dass Frauen machtlos sind. Vielleicht fühlte ich mich darin sogar zuhause, weil es in meiner Weltanschauung Sinn machte. Indirekt wurde auch mein Sozialleben beeinflusst: Ich baute eine schön gepflegte Fassade auf, um sicherzugehen, dass niemand merkte, was los war. Aus mir wurde ein sehr voreingenommener, harscher Mensch, was daher kam, dass ich die echte Person, die ich war, verleugnete. Wenn jemand so mit anderen umgeht, bedeutet es meistens, dass er selbst sehr zu kämpfen hat. Eine Freundin von mir wurde mit sechzehn schwanger und ich war unglaublich enttäuscht von ihr, während ich mir jeden Tag wie ferngesteuert die Pornografie rein zog. So handeln wir Menschen manchmal.“
Pornografie ist kein männliches Problem
Eine Barna Studie besagt, dass 56 Prozent der Frauen unter 25 Jahren gelegentlich zu pornografischem Material greifen. 18 Prozent davon wöchentlich. Zahlen, von denen Audrey damals keine Ahnung hatte. In ihrem Umfeld galt Pornografie als rein „männliches Problem“. Mit der einzig logischen Schlussfolgerung, dass es sich bei ihr wohl um eine Laune der Natur handeln musste. Etwas Abnormales.
„Die Abhängigkeit führte mich immer mehr in die Scham und somit in die Einsamkeit hinein. Dabei ist es wichtig, zwischen Schuld und Scham zu unterscheiden. Schuld bedeutet: Ich weiß, ich habe etwas Falsches gemacht und ich möchte es wieder gut machen. Sie ist gesund und wir sollten sie alle spüren, wenn wir etwas gegen unser Gewissen machen. Scham hingegen sagt: Du BIST schlecht. Sie ist eine beständige, zerstörende Wahrnehmung deiner Identität und deiner Existenz als etwas Unwürdiges. Ich hatte das Bild von mir, dass ich nicht würdig bin, geliebt zu werden – von anderen Menschen oder von Gott selbst. Die Scham bleibt, lange noch nachdem das Verhalten, das sie in erster Instanz hervorgerufen hatte, beendet wurde. Ich glaube viele unter uns haben eine Beziehung zu Gott, die in der Scham begründet ist. Für mich war Gott einer, der mit einer Peitsche in der Ecke steht und wartet, dass du einen Fehler machst. Mit der echten Botschaft, die Gott für die Menschheit hat, hatte das definitiv nichts zu tun.“
Gleichzeitig beginnt Audrey Assad, Lieder zu schreiben. Lieder, die von Sehnsucht und Ruhelosigkeit singen. Da ist ein Blinder auf der Suche, ein Heimatloser, der sich nach einem Zuhause sehnt. Es werden Fragen gestellt und Entschlüsse gefasst. Es wird gelitten und gehofft und vertraut. Ihre Musik ist keine Flucht von etwas, sondern die Flucht hinein in einen Zustand der inneren Freiheit, erklärt Audrey.
„Ich las ein Buch, das vom Gleichnis des Weinstocks und der Reben erzählte. Das war der Punkt, als ich zum ersten Mal realisierte, was es bedeutete, wenn Gott der Weinstock und ich eine Rebe bin. Ich verstand, dass ich nicht durch und durch böse sein konnte, weil ich mit Gott selbst verbunden war. Ich hatte wieder einen Wert, eine Würde. Ich wurde eingeladen, mich lieben zu lassen. Und auch wenn ich nicht behaupten kann, dass heute alles perfekt ist und ich nicht mehr mit selbstzerstörerischen Gedanken zu kämpfen habe, kann ich doch sagen, dass sie mein Leben heute nicht mehr bestimmen.“
Die Abhängigkeit überwinden
Das klingt alles sehr schön und gut, aber reichen Geschichten über Weinreben, um eine echte Abhängigkeit zu überwinden? Sind wir überhaupt wirklich frei, von ihr frei zu werden? Wie war das nochmal mit Botenstoffen und Glückshormonen und dass sich das Gehirn einfach das holt, was es braucht, und davon immer mehr und mehr? Aber erst einmal die Sache mit der Abhängigkeit und der Freiheit.
„Das Erste, was ich machte, war, mein Problem mit jemandem zu teilen. Ich ging auf meine drei besten Freundinnen zu und erzählte ihnen von meiner Pornografiesucht. Zu meiner Überraschung erhielt ich von allen dreien die gleiche Antwort: „Unglaublich, aber ich hab das gleiche Problem.“ Ich war so überzeugt, dass ich als Frau allein damit war. Mit einer teilte ich sogar den etwas ungewöhnlichen Zwang, alle unsere Beinhaare einzeln auszuzupfen. Wie bizarr war das? Aber es war so unglaublich heilsam. Das war der erste Schritt: sich öffnen. Die schwere Last nicht allein mit mir herumschleppen zu müssen.“
Die Kraft, die sie dadurch bekam, half schließlich, ihrem Zwang, Pornografie zu konsumieren, endgültig einen Riegel vorzuschieben. Auch wenn die Bilder sie noch für eine lange Zeit begleiteten und sie die Folgen heute noch spürt. In der Beziehung mit sich selbst und mit ihrem Mann. Und weil es nicht bei den drei Freundinnen bleiben sollte, denen sich Audrey anvertraute, fing sie an, öffentliche Vorträge zu halten. Vor Menschen zu stehen und zu sagen: Ich kämpfe mit einem Problem, aber es definiert mich nicht. Diesen Menschen erzählt sie auch, dass regelmäßige Therapie das Beste war, das sie tun konnte, um mit Themen wie einem negativen Selbstbild, destruktivem Verhalten und Intimitätsproblemen klar zukommen. Sich jemandem anzuvertrauen – seien es Freunde oder Therapeuten – ebnete schließlich auch den Weg zu einer Freiheit, die sie davor nicht kannte.
Frei sein
Audrey entscheidet sich, ihrem Körper eine zweite Chance zu geben. Immerhin wird sie ihn so schnell nicht mehr los. Vielleicht ist er es also doch wert, den ein oder anderen positiven Gedanken über ihn zu riskieren. Ihn als Geschenk anzusehen. Ihre ganze Geschichte – das Schöne und Schmerzhafte – passierte in und durch ihn, stellt sie fest. Und selbst wenn unser Körper schon mal fittere Tage gesehen hat, erzählt er uns Dinge. Wie zum Beispiel, was uns gerade richtig gut tun würde.
„Je mehr ich mir bewusst war, wie gebrochen ich bin – auf eine unerschrockene und furchtlose Art und Weise – je mehr ich diese zerbrochenen Teile betrachtete und mich entschied, was mit ihnen passieren sollte, desto mehr konnte ich für andere Menschen da sein, ohne voreingenommen und beurteilend zu sein. Es war mehr Raum da, sie einfach zu lieben.“
Wie klingt frei sein für dich? Willst du dich auch auf den Weg machen? Hier findest du noch weitere Zeugnisse von Frauen und Männern, die mit Gottes Hilfe die Abhängigkeit hinter sich lassen konnten. Gemeinsam geht es leichter! Wende dich doch unverbindlich an eine Selbsthilfegruppe oder Beratungsstelle in deiner Umgebung. Hier gibt es viel Input für Eltern zum Thema Aufklärung. In unserem Shop findest du außerdem gute Bücher, die dabei unterstützen können!
Wir bedanken uns bei Melchior, deren Redakteurin das Interview mit Audrey Assad führte und es Love Is More zur Verfügung stellte. Das ganze Interview findest du hier.
*Audrey Assad ist neben ihrer Tätigkeit als Singer Songwriterin auch Autorin, Rednerin und zusammen mit ihrem Ehemann Begründerin ihres eigenen Musiklabels „Fortunate Fall Records“, sowie eine Hälfte der Band „LEVV“. Zusammen mit PledgeMusic veröffentlicht sie Ende Februar ihr brandneues Album „Evergreen“. Assad lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Nashville, Tennessee.
Bildnachweis: @http://www.audreyassad.com/media/
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